Die Texte

Leseproben

STEFAN ZWEIG

Aus "Sternstunden der Menschheit - Der Kampf um den Südpol"

"Seit Jahrzehnten folgen einander die Expeditionen. Keine erreicht das Ziel. Irgendwo, erst jetzt entdeckt, ruht im gläsernen Sarge des Eises, dreiunddreißig Jahre, die Leiche des kühnsten der Kühnen, Andrees, der im Ballon den Pol überfliegen wollte und niemals wiederkam. Jeder Ansturm zerschellte an den blanken Wällen des Frostes. Seit Jahrtausenden bis in unsern Tag verhüllt hier die Erde ihr Antlitz, zum letzten Mal siegreich gegen die Leidenschaft ihrer Geschöpfe. Jungfräulich und rein trotzt ihre Scham der Neugier der Welt.

Aber das junge zwanzigste Jahrhundert reckt ungeduldig seine Hände. Es hat neue Waffen geschmiedet in Laboratorien, neue Panzer gefunden gegen die Gefahr, und alle Widerstände mehren nur seine Gier. Es will alle Wahrheit wissen, sein erstes Jahrzehnt schon will erobern, was alle Jahrtausende vor ihm nicht zu erreichen vermochten. Dem Mut des einzelnen gesellt sich die Rivalität der Nationen. Nicht um den Pol allein kämpfen sie mehr, auch um die Flagge, die zuerst über dem Neuland wehen soll: ein Kreuzzug der Rassen und Völker hebt an um die durch Sehnsucht geheiligte Stätte. Von allen Erdteilen erneut sich der Ansturm. Ungeduldig harrt schon die Menschheit, sie weiß, es gilt das letzte Geheimnis unseres Lebensraumes. Von Amerika rüsten Peary und Cook gegen den Nordpol, nach Süden steuern zwei Schiffe: das eine befehligt der Norweger Amundsen, das andere ein Engländer, der Kapitän Scott."


ROBERT F. SCOTT

Aus den Tagebüchern der "Terra-Nova-Expedition"

1. Dezember
"Nachts wurde der Wind stärker, ich erwachte von der Bewegung. Die See geht hoch. Unter diesen Umständen bietet das Schiff einen nicht gerade erfreulichen Anblick. Sein Inneres ist dank der Geschicklichkeit unseres Proviantmeisters Leutnant Bowers so vollgepackt, wie es menschliche Geschicklichkeit nur ersinnen kann, und auf Deck ist's kaum anders. Unter der Großluke sind unsere Vorräte und ein Teil des Holzwerks für die Hütte geborgen; darüber auf dem Hauptdeck liegen der Rest des Holzwerks, die Schlitten, die Ausrüstung für die Landreise und alle Instrumente und Maschinen für unsere Wissenschaftler. Unter der Back sind Stände für 15 mandschurische Ponys; 7 auf der einen Seite, 8 auf der andern, die Köpfe einander zugewandt. Die wochenlange Fahrt wird eine schlimme Probe für die armen Tiere sein. Der übrige Raum der Back ist mit 5000 Kilo Futter vollgepackt; dazwischen haust Anton, mein russischer Pferdeknecht, der arg an Seekrankheit leidet. Trotzdem rauchte er gestern Abend eine Zigarre; er rauchte immer ein wenig, dann kam eine Pause, wo sich sein Magen umkehrte, darauf griff er wieder zu seiner Zigarre. »Nicht gut!« klagte er Rittmeister Oates, indem er sich den Magen rieb.

Hinter der Vorluke ist das Eishaus, das 3 Tonnen Eis, 162 geschlachtete Hammel und 3 Rinder nebst einigen Büchsen Kalbsmilch und Nieren enthält. Hinter dem Eishaus stehen 2 ungeheure Packlisten, jede zu 5 x 1 1/2 x 1 ¼ Meter; sie enthalten zwei Motorschlitten. Der dritte ruht quer über der Hinterdecköffnung. Die Kisten sind mit Segeltuch überdeckt und mit schweren Ketten und Tauen festgemacht. Blechkannen und -fässer mit Petroleum für die Schlitten sind in starke Holzkisten verpackt, im Ganzen 2 1/2 Tonnen Öl; weitere Behälter mit Petroleum, Paraffinöl und Alkohol stehen zwischen Großluke und Fockmast und längs der beiden Kühlgänge. Um die Packkisten herum steht das Deck voll aufgestapelter Kohlensäcke, die aber bald verschwinden werden, denn die »Terra Nova« frißt entsetzlich viel Kohlen: 8 Tonnen am Tag! Die anscheinende Verwirrung auf Deck vervollständigen unsere 33 Hunde; ihre Nahrung, ungefähr 5 Tonnen Hundekuchen, ist allenthalben in die Lücken zwischen dem Gepäck eingekeilt.

Wie wir es fertigbringen, an unserm Kajütentisch für 24 Offiziere Platz zu finden, ist mir noch unerklärlich. Meist sind zwar einige auf Wache, aber es ist trotzdem ein heilloses Gedränge."


STEFAN ZWEIG

Aus "Sternstunden der Menschheit - Der Kampf um den Südpol"

"Am ersten November 1911 brechen sie auf in einzelnen Trupps. Auf den Bildern sieht man die wundersame Karawane dieser erst dreißig, dann zwanzig, dann zehn und schließlich nur mehr fünf Menschen durch die weiße Wüste einer leblosen Urwelt wandern. Vorn immer ein Mann, eingemummt in Pelze und Tücher, ein wildbarbarisches Wesen, dem nur der Bart und die Augen frei aus der Umhüllung lugen. Die bepelzte Hand hält am Halfter ein Pony, das seinen schwerbeladenen Schlitten schleppt, und hinter ihm wieder ein anderer, in gleicher Kleidung und gleicher Haltung und hinter ihm wieder einer, zwanzig schwarze Punkte in wandelnder Linie in einem unendlichen, blendenden Weiß. Nachts wühlen sie sich in Zelte ein, Schneewälle werden gegraben in der Richtung des Windes, um die Ponys zu schützen, und morgens beginnt wieder der Marsch, eintönig und trostlos, durch die eisige Luft, die seit Jahrtausenden zum erstenmal menschlicher Atem trinkt.

Aber die Sorgen mehren sich. Das Wetter bleibt unfreundlich, statt vierzig Kilometer können sie manchmal nur dreißig zurücklegen, und jeder Tag wird ihnen zur Kostbarkeit, seit sie wissen, dass unsichtbar in dieser Einsamkeit von einer anderen Seite ein anderer gegen das gleiche Ziel vorrückt."




ROBERT F. SCOTT

Aus den Tagebüchern der "Terra-Nova-Expedition"

Sonntag, 14. Januar
"Die Sonne stand den ganzen Tag hindurch undeutlich am bedeckten Himmel, und ein angenehmer Südwind wirbelte nur wenig Schnee auf. Infolgedessen war die Oberfläche etwas besser, und wir kamen in gleichmäßigem Schritt 22 Kilometer weiter. Aber das Einhalten der Richtung war schrecklich schwierig; oft sah ich überhaupt nichts mehr, und Bowers schob mich an der Schulter den richtigen Weg vorwärts. Wieder spürten wir empfindliche Kälte. Oates scheint mehr als wir andern unter Kälte und Anstrengung zu leiden, aber sonst sind wir alle wohl und munter. Nur noch 70 Kilometer! Kämen doch nur ein paar schöne Tage! Das Ziel liegt vor uns, zum Greifen nahe, und nur das Wetter versperrt uns den Weg!

15. Januar Während der Nacht wurde die Luft vollständig klar, und die Sonne schien aus gänzlich wolkenlosem Himmel herab. Der leichte Wind hatte sich gelegt, und die Temperatur war auf 32° heruntergegangen. Das bedeutet schweres Ziehen! sagte ich mir, und ich hatte nur zu richtig geraten. Die Oberfläche war schrecklich, aber wir gewannen in 4 ¾ stündiger Arbeit 11 Kilometer. Doch waren wir alle ziemlich erschöpft, als wir das Lager aufschlugen, und hinterließen deshalb hier unser letztes Depot - nur Proviant auf 4 Tage und ein paar Kleinigkeiten. Nach dem zweiten Frühstück glitt der Schlitten erstaunlich leicht vorwärts - teils infolge des geringen Gewichtes, teils auch weil er richtig beladen war, hauptsächlich aber infolge unserer stärkenden Rast. Jedenfalls machten wir einen großartigen Nachmittagsmarsch von 11 ½ Kilometer.

Ein wunderbarer Gedanke, dass nur noch 2 Märsche uns an den Pol bringen werden. Nur noch lumpige 50 Kilometer. Wir müssen hinkommen, koste es was es wolle! Jetzt schreckt mich nur noch die eine furchtbare Möglichkeit, dass die norwegische Flagge vor der unsern dort flattern könnte!"


STEFAN ZWEIG

Aus "Sternstunden der Menschheit - Der Kampf um den Südpol"

"»Gehobene Stimmung« verzeichnet das Tagebuch. Morgens sind sie ausgerückt, früher als sonst, die Ungeduld hat sie aus ihren Schlafsäcken gerissen, eher das Geheimnis, das furchtbar schöne, zu schauen. 14 Kilometer legen die fünf Unentwegten bis nachmittags zurück, heiter marschieren sie durch die seelenlose, weiße Wüste dahin: nun ist das Ziel nicht mehr zu verfehlen, die entscheidende Tat für die Menschheit fast getan. Plötzlich wird einer der Gefährten, Bowers, unruhig. Sein Auge brennt sich fest an einen kleinen, dunklen Punkt in dem ungeheuren Schneefeld. Er wagt seine Vermutung nicht auszusprechen, aber allen zittert nun der gleiche furchtbare Gedanke im Herzen, dass Menschenhand hier ein Wegzeichen aufgerichtet haben könnte. Künstlich versuchen sie sich zu beruhigen. Sie sagen sich – so wie Robinson die fremde Fußspur auf der Insel vergebens erst als die eigene erkennen will –, dies müsse ein Eisspalt sein oder vielleicht eine Spiegelung. Mit zuckenden Nerven marschieren sie näher, noch immer versuchen sie sich gegenseitig zu täuschen, sosehr sie alle schon die Wahrheit wissen: dass die Norweger, dass Amundsen ihnen zuvorgekommen ist."


ROBERT F. SCOTT

Aus den Tagebüchern der "Terra-Nova-Expedition"

"Das Furchtbare ist eingetreten - das Schlimmste, was uns widerfahren konnte! - Wir machten am Vormittag 14 Kilometer. Am Nachmittag brachen wir in gehobener Stimmung auf, denn wir hatten das sichere Hochgefühl, morgen unser Ziel zu erreichen. Nach der zweiten Marschstunde entdeckten Bowers' scharfe Augen etwas, das er für ein Wegzeichen hielt. In wortloser Spannung hasteten wir weiter - uns alle hatte der gleiche furchtbare Verdacht durchzuckt, und mir klopfte das Herz zum Zerspringen. Eine weitere halbe Stunde verging - da erblickte Bowers vor uns einen schwarzen Fleck! Ein Schneegebilde war das nicht - konnte es nicht sein! Geradeswegs marschierten wir darauf los, und was fanden wir? Eine schwarze, an einem Schlittenständer befestigte Flagge! In der Nähe ein verlassener Lagerplatz - Schlittengleise und Schneeschuhspuren kommend und gehend - und die deutlich erkennbaren Eindrücke von Hundepfoten - vieler Hundepfoten - das sagte alles. Die Norweger sind uns zuvorgekommen - Amundsen ist der erste am Pol!

Eine furchtbare Enttäuschung! Aber nichts tut mir dabei so weh wie der Anblick meiner armen, treuen Gefährten! All die Mühsal, all die Entbehrungen, all die Qual - wofür? Für nichts als Träume - Träume über Tag, die jetzt zu Ende sind.

An Ruhe war in dieser Nacht, nicht zu denken! Schon die Aufregung ließ uns nicht schlafen, die Aufregung über diese Entdeckung des schon entdeckten Pols! Alle Gedanken, die in uns aufstiegen, alle Worte, die fielen, alles endete mit dem einen Furchtbaren: Zu spät! Und als es dann still wurde im Zelt - da brüteten wir gewiss alle über der einen finstern Vorstellung: Mir graut vor dem Rückweg!"